JULIE/X

X

Ich warte auf sie.
Weder zwischen den Zeilen in den aufgefalteten Briefen noch auf ihrer Lieblingsbank im Prater kann ich sie finden.
Ich sitze beim Schreibtisch und spiele mit einem Briefbeschwerer.
Julie, weißt du noch?
Den hat dein Mann meinen Großeltern geschenkt. In der Glaskugel sind filigrane mundgeblasene Blüten eingeschlossen.
Heute noch beschwert er die Weihnachtspost und die Glückwunschkarten meiner Mutter.
Scherben bringen Glück. Hat er das zu dir gesagt, als ihr geheiratet habt?
Er, der Glaserer, der wunderzarte Kunststücke herstellte und im Leben einer war, der alles zerbrach und zum Zersplittern brachte.

Stimmen lenken mich ab. Eine besonders. Ich kenne sie aus den Büchern, aus den Dokumentationen.
Sie füllt ganz Wien. Ganz Österreich. Sie brüllt sich heiser, bis der Chor einfällt und eine Hymne anstimmt, die zum Himmel schreit.

Sag Julie, wie war dir da?
Du hast dich nicht dazu geäußert. Obwohl dein Schwager, mein Großvater, um ein Haar ins KZ Mauthausen gekommen wäre, weil er im Wirtshaus Hitler beschimpfte. Und deine Schwester, auf Knien rutschend vor dem Ortsgruppenleiter, um sein Leben bat. Die Strafe lautete dann Front und die älteste Tochter, deine Nichte, wurde zum Nachrichtendienst einberufen.
Du hast sicher davon erfahren. Warum kein Wort des Bedauerns? In irgendeinem Brief. In irgendeiner Geste.

War dein Herz schon so schwer, weil der Krieg deinen Karli fast verschlang? Weil dein Mann im Bombenhagel ums Leben kam?
So viel Tod rings um dich, dass das Herz überging.
Ich glaube, ich verstehe jetzt.

Klein und gebeugt steht sie im Türrahmen in ihrer Wiener Wohnung.
Verzeih mir.
Sie winkt ab.
Lass es sein. Wer kann jemals verstehen.


Gabriele Pflug

4 Kommentare:

  1. Dieser Abschnitt über die Stimme, die ganz Österreich erfüllt ...Ohne zu beschönigen, ohne platte Beschreibung von politischen Ereignissen fasst du doch vollständig alles in diese Miniatur, der es gelingt, im Furchtbaren poetisch zu sein.

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  2. ich persönlich glaube, dass ich das schreckliche nur ertrage, weil es die poesie gibt.
    ich danke dir!
    gabriele

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  3. Was Du in dieser kleinen Geschichte für Horizonte aufreißt: das Schicksal der vielen Mädchen "in Stellung" (wie das bei uns hieß), der erste Weltkrieg, das Verhältnis der Geschlechter zueinander, der zweite Weltkrieg, die Frage von Schuld und Unschuld des eigenen Lebens in den Zeitläuften der Geschichte...

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    1. das anreißen könnte auch problematisch sein. ich hatte mir beim schreiben überlegt, ob ich nicht tiefer eindringen müsste.
      wahrscheinlich fürchtete ich mich davor, mich zu verlieren.

      danke!
      Gabriele

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